Textvertonungen-Flußrichtungen-Komponistentypen-Versöhnungstopoi-Zeitläufte


Eine kleine Kontroverse mit Johannes Kreidler veranlasst mich, mir mal wieder Gedanken über die Komposition mit Texten, zu, über, von Texten zu machen, landläufig „vertonen“ genannt. Schon dieser erste Satz bringt mich ins Stolpern. Vertonen – ein Wort, das nach Erde, Dreck, Schmutz, Kot klingt. Nicht vergolden, versilbern, verschönern. Auch wenn Komponisten dies gerne so sehen. 

Vertonen: ist das nicht Lehm, den man zu Töpferware brennt? Das wäre wohl verbrennen zu nennen. Verflüssigt ein Komponist Wort-Töpferware zurück zu Lehm? Damit wäre es erledigt und man wendet sich besser reiner Instrumentalmusik zu.

Vertonen: andere Künste werden in Musik überführt, mit Musik versehen. Klassische Rhetorik und Dialektik wurden als Formschemata zu Liedform, Sinfonie und Sonate, diese mit weiteren Formen gekreuzt, gekoppelt, schliesslich aufgelöst. Eine entfernte Ahnung dieser alten Matrizen findet sich selbst in formfreisten Stücken der Jetztmusik wieder. Sie sind freie Formen, also müssen sie sich von etwas Vorgegebenen absetzen.

Philosophie oder Theoreme, mathematische Formeln als Vorlagen für Musik. Im weitesten Sinne kann man hier doch auch von Vertonung sprechen? Natürlich bezieht man sich damit nicht auf die alte Rhetorik, möchte besonders durch den Bezug auf andere Wissenschaften deren musikalischen Auswüchsen klassisch-romantischer-frühmoderner Provenienz aus dem Weg gehen. Besonders „Syntax“ und „Grammatik“ im konventionellen Stil wird verlassen, oder man erhebt andere Logarithmen denn sprachähnliche zur formalen Grundlage.

Streng betrachtet sind wir bisher vom Wort nicht losgekommen. Wort, Nicht-Wort, Statt-Wort. Aber Wort bleibt Wort, wie losgelöst man sich davon bewegt: Musik scheint eine morphologische Basis zu brauchen, zu benötigen, zu müssen, die aus der Auseinandersetzung mit Sprache und deren immer sprachferneren anderen Wege, die aber ohne den Ausgangspunkt Sprache nicht denkbar sind, von ihr wegentwickelt worden sind.

Gründe sich von der Sprache zu entfernen gibt es zuhauf: die Emanzipation der Musik von ihr selbst, die generelle Emanzipation verschiedenster Parameter innerhalb der Musik, eine gewollte Entemotionalisierung von Musik besonders in Abhängigkeit und Doppelung von Sprache. Irrwitzig muss einem dagegen der Weg der Filmmusik erscheinen: sie erzeugt die Emotionen zum bewegten Bild, wo diesem an ihnen mangelt, er es nicht schafft sie hervorzurufen. Das ist natürlich meist kunstgewerblicher Alltag. Dagegen setzt intelligent eingesetzte Musik zu bewegten Bildern andere Bilder im Kopf frei, erzeugt fremde Gefühlslagen, die dem Film erst nicht entspringen. Oder sie verhält sich wie ein Chor, ein Kommentar. Wie oben Wort Wort blieb, bleibt hier allerdings Emotion Emotion.

Also meidet sich vom Wort immer weiter absetzende Musik wohl auch Film und Emotion, strebt hin zu sich verabsolutierender Musik. Dies ist ihr aber nur eine kurze Zeit möglich! Wie empfindsam kommen uns heute ars-nova-Chansons, Josquin-Motetten, Bach-Fugen vor. Wie stark wurde moderne, Neue Musik selbst zum Klischee zu bewegten Bildern, besetzt dort die Extreme von schöpfungsaktähnlicher Klarheit oder diffusester Verwirrung. Dennoch gibt es die Chance emanzipatorischen, erstmal wahrnehmungs-wertfreien avancierten Davonpreschens.

Wie es sich heute allerdings als reine Selbstgeisselung anfühlt, in diese Richtung zu arbeiten, setzt sich selbst noch vor einigen Jahren Abstraktion versprechende technikverpflichtete Musik mit Fragen der Wahrnehmung auseinander. Nicht unbedingt in direkter Verwertung, sondern in Brechung diverser Erwartungen. So wird komplexes Langdauerndes plötzlich in ein Knackgeräusch gestaucht. Oder nur noch Fremdes, nicht mehr selbst Komponiertes auf einer neuen Ebene komponiert, oft durch elektronische Vehikel, so dass der schöpfender Komponist, der theorem- und theoriefirme, immer mehr in den Hintergrund tritt, das Konzept an Gewicht gewinnt. Das bringt Musik heute viel näher an extreme Bildende Kunst heran als sie sich noch in der Nähe von Literatur und Film wähnt.

Im Extremfall ist zu sagen: nicht Komponisten sondern Institutionen komponieren, der Komponist führt je nach seiner konzeptaffinen Bewusstseinslage nur noch aus, wenn er es nicht schafft, als Person auch ein führender Akteur des Produktionsprozesses zu sein. Da helfen ihm auch nicht Ausrufe wie: ohne mich gäbe es gar kein Werk, was wiederum Arbeitsplätze schafft. Vielmehr begibt er sich doch in Suche nach Wirkfeldern in die Vorgaben von Institutionen, weiß er mehr oder minder bewusst, was diese an Tönen von ihm erwarten. Und je mehr er meint, sich bewusst als Bestandteil der Kreativwirtschaft zu fühlen zu müssen, um so mehr wird er zum Prekariat, wie es haufenweise Designer, Architekten, Schauspieler, Autoren schon sind. Mag er zuvor immer schon weniger verdient haben als diese, war er doch unabhängiger, autarker, gerade vielleicht aufgrund seiner Unbekanntheit, des Inkomensurablen seiner Kunst wegen.

Um beim Bild flüssige Erde zu festem Steingut zu bleiben: es komponieren nicht nur die Institutionen, nein, sie vertonen, vertönern, versteinern den Komponisten. Wer soll dies aushalten? Grob eingeteilt vielleicht drei grundverschiedene Typen: der Autarke, gnadenlos Unabhängige um den Preis bedingungsloser Unbekanntheit. Jetzt werden viele sagen: ich bin es doch schon immer! Da kann man nur antworten: bitte die Reihenfolge der Binnenstruktur des vorletzten Satzes beachten, nochmal zum Mitschreiben: Autark, Unabhängig, Bedingungslos, Unbekannt. Also nicht das Pferd von hinten aufzäumen: nur weil man weiten Kreisen nicht bekannt ist, wird man dies kaum freiwillig bedingungslos machen, es sei denn, man beschönigt sich seine Bedeutungslosigkeit, was einen aber nicht als sozial unabhängige Person auszeichnet, geschweige denn von geistiger Autarkie sprechen lässt. Diese erreicht man nur, geht man z.B. den Weg eines Charles Ives und lebt nicht von Musik, und zwar bedingungslos! Das verbietet auch das Dasein als Instrumentalist, als Musikpädagoge, als Kompositionsprofessor. Man ist in all diesen Bereichen nicht unabhängig, ist die Gefahr von Musikbetriebsfrust in den nebenberuflich als begrenzte Erholung nicht gebannt, ja weht doch bei viel zu Vielen der musikalisch prekär beschäftigten Menschen der Genauigkeitsfetisch, den sie dem Tonsatzlehren schulden. Das ist hart und ungerecht, das verdient tatsächlich Solidarität, Mitleid, Pietät. Aber weit und breit kein Bankier Ives. Selbst ein Schönberg, der seine kaufmännische Lehre abbrach, wäre als komponierender Kaufmann wohl unabhängiger, autarker gewesen als er es als stets Unterrichtender war. Man vergisst immer, wie er nach seinem Aufbruch in die Atonalität von den Schülern Berg und Webern schnell eingeholt, an Radikalität überflügelt worden ist. Von diesen Dreien war letzten Endes nur der wirtschaftlich familiär abgesicherte Berg der wirklich Autarke, Webern in seiner bizarren inneren Emigration später vielleicht dann ähnlich, anders, verdingt als namenloser Arrangeur, Rosenzüchter, Chorleiter, ohne Hoffnung auf Karriere in diesen Bereichen, somit wirklich autark.

Wie sieht es heute mit Autark, Unabhängig, Bedingungslos, und sehr wohl Bekannt aus? Das ist und bleibt ein Gerücht, ein Rätsel! In der Neuen Musik jedenfalls gibt es solche Gestalten nicht mehr, spätestens seit Stockhausens Tod. Wobei sich bei ihm die Frage stellt, ob er nicht dem dritten Typus angehört.

Zuvor ein Blick auf den zweiten Typen!

Das sind Menschen, die sehr wohl wissen, wie sie eingebunden sind, nicht unabhängig, nicht autark. Das macht sie nicht berühmt, das Bekenntnis, darum zu wissen würde ihnen vielmehr schaden – glaubt doch alle Welt offizielle an das Konstrukt des Autarken, Unabhängigen, Bedeutungslosen, Bekannten und möchte darin nicht gestört werden. Sie sind aber zumindest nicht unbekannt, wenn auch nur im kleinen Maße. Er weiß zum Beispiel, wo sein Platz im Gefüge einer Musikhochschule ist, füllt diesen anständig aus, strebt aber in diesem Bereich aber nicht nach Erfüllung. Vielmehr weiß er, wie er sich den komponierenden Institutionen zu stellen hat, lässt sich nicht vertonen, versteinern, geht ihnen im Zweifelsfalle aus dem Weg oder springt nicht verzweifelt in jede Stipendien- und Wettbewerbsnische, lässt nur selten seine Hüllen fallen. Er kennt den Kern seiner Begabung, sucht im Strome des Aktuellen nach Aufgreifbaren, setzt sich von diesem Fluss auch mal ab. Vor allem geht er nicht zugrunde, wenn er den Kern seines Könnens in ungewöhnlichen Terrains entwickeln muss. Auch hier weiss er, dass er sich nicht auffressen lassen darf. Und das ist doch das Problem vieler Teilzeittheoretiker, Zweidrittelfilmkomponisten und Vollzeitdozenten: sie werden von ihren sie finanziell aushaltenden Metiers aufgefressen. Sie organisieren sich stärker und bewusster als die Unbekannten-Abhängigen. Sie wollen Produktionserfahrungen ihrer Jobausflüge in den Bereich der Neuen Musik, der Ernsten Musik mitnehmen. Aber auch sie sind im Zuge des Broterwerbs zu bedingt an ihre Geldquellen gefesselt. Das sollten sie nie vergessen. Und weil sie doch wissen, wie Institutionen komponieren, werden sie von ihren eigenen Institutionen versteinert. Natürlich haben sie mittelfristig mehr Erfolg als die anderen Kollegen, bevölkern fleissig beide Metiers, sind aber auf Dauer wie die Dritte Migrantengeneration weder da noch dort zuhause. Etwas besser ergeht es den Musizierenden, Dirigierenden. Sie stecken immerhin fest im Bereich der Klassik und der Neuen Musik drinnen. Sie kriegen mit, wie es gut und schlecht sein kann, sich Institutionen anzupassen. Sie haben aber auch genug Erfahrung, um einigermassen mit diesen Einrichtungen auf Augenhöhe zu verhandeln und nicht als Fremdkörper zu wirken. Sie leben allerdings in der Gefahr, das Erleben als einigermassen erfolgreicher Musiker auf ihr Komponieren zu übertragen und so spielende Unterhaltung mit dialektischem Entertainment zu verwechseln. So wundert es nicht, wenn ihre Musik sehr geschliffen, gut spielbar ist, diese und sie selbst die Eloquenz eines Teilnehmers des Literarischen Quartetts ausstrahlen. Doch Beliebtheit beim Publikum macht nicht unbedingt ihre geschriebene Musik wertvoller. Nur wenige haben genug dadaistische-pianistisch-diebische Freude, die Dinge ins Extrem zu treiben oder die Grenzen ins Poppige und streng Theoretische wie so mancher verquerer Zupfer aufzuweichen.

Der dritte Typus ist nun wie die Hausmarke Stockhausen. Komponist, Lehrer, Produzent, Verleger. Das Ziel muss es in der Institutionen-komponieren-Zeit sein, selbst immer wieder temporär oder irgendwann dauerhaft zu seiner eigenen Institution zu werden. Das unterwirft einen zwar dennoch den Zwängen des Betriebs. In Teilen kann man sich aber heraushalten. Wichtig ist es, nicht alles aus einer Hand zu erhalten, einer Hand zu schulden. Dennoch muss es gelingen, in allen voneinander getrennten Welten, auf denen man sich bewegt, seinen Kern zu bewahren, sich selbst aus den unterschiedlichen Feldern heraus zu befruchten, das Geldverdienen als Anregung für künstlerisches Schaffen zu nehmen, schöpferische Dienstleistung in strenge Materialsicht einfliessen zu lassen, selbst im Kunstgewerblichen das Unerwartete zu suchen. Das macht einem natürlich immer noch nicht zu einem neuen Karlheinz! Solche Zeiten sind einfach momentan zu weit entfernt, zeigt sich keine so existentielle Krise – selbst die Finanzkrise nicht –, die zu total zerstörten Verhältnissen führen. Man vergesse nicht den Leidensdruck, den eine so totale Zerstörung und Vertreibung wie Nazizeit und Weltkrieg erst erschaffen mussten, welcher die Möglichkeit zu Brüchen und neuen, sehr klaren Ideen mit komplexen Wirkungen führten. Heute ist Alles – hoffentlich kritische – Weiterentwicklung der Wegweisungen jener Zeiten nach dem Weltkrieg. Es wird immer das Ende der Neuen Musik und ihrer Einrichtungen beschworen. Für mittlere und kleinere sowie sich nicht weiterentwickelnde Institutionen mag das stimmen. So zielt es immer mehr auf den Selbstproduzierenden ab, wenn er nicht mehr produziert wird.

Und darin liegen seine neuen Möglichkeiten! Nicht auf Aufträge warten, nein, sie sich selbst verschaffen! So karg dieses Wirtschaften erstmal bezahlt sein mag, so sehr man andere Jobs annehmen muss, am besten weit von der Musik entfernt, um nicht in sich nur wieder schwer zu durchbrechende Betriebshierarchien verstrickt zu sein, so unabhängig ist, sind die Grundlagen für eine gewisse Autarkie gelegt. Dadurch wird man wirklich jobschaffender Teil der Kreativwirtschaft. Weil man sich ständig neu erfinden muss, um interessant zu bleiben, um selbst Spass am Schaffen zu haben, so mühsam, hamsterradartig dies ist, kommt man auf neue Ideen. Die sind natürlich nicht immer so einzigartig. Sie wissen aber auch, woher sie kommen, wohin sie gehen. Da man selten absolut alleine arbeitet, entsteht Neues eher im Kollektiv, in Konkurrenz zu anderen Selbstproduzierenden. So dreht man aber am grossen Rad einer gemeinschaftlichen Weiterentwicklung. Das macht einen vielleicht weniger solitär bedeutend, weniger zum alten Originalgenie, das man natürlich immer noch vorgaukeln muss. Natürlich entkommt man so nicht unbedingt zur Gänze den Institutionen. Man kann aber indirekt wie in sich immer häufiger abzeichnende partizipativen Weichenstellungen an der Ausgestaltung mitwirken. Bezeichnend ist, dass das Partizipative aus der Bauplanung kommt, nicht aus dem Prozess künstlerischer Unikatarbeit. So sehr das Architekten ihre Projekte verhageln mag, so breit werden Betroffene beteiligt, befruchtet dies über den etwas unglücklichen Begriff Wutbürger weiterhin die Organisation der Gesellschaft: nicht mehr allein Einstellung und Haltung, also Ideologie entscheiden, sondern Betroffenheit im rechtlichen Sinne. Das klingt abstrakt, langweilig, entemotionalisiert, aber dennoch modern integrativ.

Es geht also immer darum, wie man etwas flüssig hält, macht. Ob man den Strom erstmal mitschwimmt, um ihn dann zu verlassen oder doch dagegen anzuschwimmen. Dies geht aber nur durch bewusstes Beteiligen und nicht Selbstausschluss. Das klingt nach weniger Ausdruck, weniger Emotionalität. Dies erfordert aber um so mehr einen bewussten Umgang mit Wahrnehmung, Emotionserzeugung. Dies schliesst Berührung, Anteilnahme und weitere expressive Qualitäten alten Stils nicht aus. Sie sind allerdings nicht mehr die Hauptmotoren der Kunst. Es mag direkt Mitleid erzeugt werden, es geht aber darum, warum es überhaupt dazu kommt, wie es oder wie es eben nicht überwunden werden kann. Und wie es doch in eine Form, in ein stückimmanentes Ritual kommen kann. Fragt man Menschen, wo sie im Wozzeck die grösste Rührung empfinden, heisst es meist bei Maries Bibellesung zu Beginn des Dritten Aktes, ihrer Ermordung oder dem Zwischenspiel. Konventionell betrachtet ist das verständlich, treffen sich hier vokaler Verismo und instrumentaler Jugendstil. Die modernste Wirkung in der Doppelung von direkter Anrührung durch das einsame, verlassene Kind, die schliessenden, beruhigenden G-D Quinten der Streicher, die gnadenlos weiterziehenden Ganztonschaukelklänge der Bläser: das ist der Schlussklang, jeder Bestandteil in seiner stilistischen Bedeutung, dennoch schlicht, fast zurückhaltend. Dies wirkt wie eine Stele, die mahnt, auf die man aber auch klettern kann, wie jene merkwürdig anziehende Abweisung des Berliner Holocaustmahnmals: so peinlich die touristische, freudige Vereinnahmung erst sein mag, andenkenschändend das laszive Räkeln auf den Steinen, so nah bringt es Lebende und Tote wieder zusammen, kann Mahnmal sein oder doch nur eine geheimnisvolle Wegmarke, die aber nicht abstösst. Und doch steckt auch das anthropolgische Auftrumpgen drinnen, wie im Monolith in Kubricks Odyssee, vor dem der Knochen ins All über die Jahrmillionen zur Raumfahrt geschleudert wird. Also auch drei Bedeutungen, fremd, unvereint, unrührig, widerspruchsfordernd und in der Gänze doch einen merkwürdig dichten Ausdruck erzeugend.

So tritt über Wozzeck wieder das Vertonen von Text in den Vordergrund: selten fand sich eine glücklichere Fügung von Szene, Musik und Text wie in Bergs Büchnerumsetzung. Den Woyzecktext selbst bog sich Berg aber doch gewaltig zurecht, nahm nicht Rücksicht auf die sprachtheatrale Einrichtung, trieb das Blech in die Form seiner Musik. Diese Literaturbearbeitung nahmen immer wieder Komponisten und Librettisten zum Anlass, Literatur direkt zu vertonen, zu veropern, ohne eine Umdichtung wie z.B. Verdi mit Boito noch von Shakespeare vornahm. Wohl des Schauspiels überdrüssig führte dies auch zur Vertonung im szenischen Sinne von kürzerer Literatur oder Romanen wie z.B. Franz Kafka. Das hat bei den entsprechenden Komponisten garantiert zu Musiken geführt, von denen sie erst angesichts der durchlebten Texte, ja fast durchlittenen, wussten. Je freier sich die Musik der Vorlage annahm, sie aufbrach, sich langsam näherte, um so ehrlicher der Umgang mit der Literatur. Nachdem es doch gemeinhin schwer zu singende, also schwerverständliche Umsetzungen waren, wirft sich die Frage nach anderen Textumgang auf. Denn so erscheint einem heute als Literaturvertonung immer noch Henzes Ode an den Westwind am Ehrlichsten, wo der Text nur vom Cellosolo gegen das Orchester, ohne Worte „gesungen“ wird.

Nun stellt sich auch die Frage, warum man eigentlich einen so grossen Respekt vor Texten haben muss, wo doch andere Kollegen gerade unter Berufung auf die heutigen gigantischen technischen Möglichkeiten, das massenhafte, hochproblematische Nutzen von musikalischen Fremdmaterial üblich ist. Da dürfte ein urheberrechtsfreier Kafka doch kein Problem sein.

Macht man es sich einfach, lässt sich das mit Generations- und Geschmacksfragen beantworten. Doch man sollte es sich schwerer machen! Wichtig ist immer, wie bewusst emanzipiert sich die Musik der Texte, der hohen Literatur annimmt. Gerade wenn man kaum noch was von der Vorlage versteht, kann man mit einer hohen Eigenständigkeit der Musik im Verhältnis zum Text positiv unterstellen. Entscheidend werden signalhafte Floskeln sein, die ein dekonstruierendes Verstehen zwischen Text- und Musikfetzen ermöglichen, besonders wenn sie im gewohnten Sinne von Textvertonung, Affektumsetzung nicht korrelieren, sich nicht doppeln.

Der riskantere Weg ist natürlich Ton und Musik wieder in Eins zu setzen. Das setzt sich utopischen Ansprüchen aus, die so ungreifbar sind, wie die Harfenklänge zu den Epen Homers. Gerade das macht solche Musik wieder angreifbar, setzt sie dem Vorwurf von Naivität zurecht aus. Der Hörer wird es ihr danken, der einfache allemal. Die Frage ist und bleibt: wo findet man für seine Zeit des Schaffens die gewisse Merkwürdigkeit, die Text und Musik wieder in eine Schieflage versetzt. Die kann nach zwanzig Jahren plötzlich genauso verflogen sein wie bei Homer, wie bei der avanciertesten Musik, die zum Filmklischee gerinnt, der Schreibtechnik die Unterrichtsgegenstand wird, PR-Gags, die die Hochkultur erobern, strukturelle Änderungen, die andere Künste längst hinter sich haben, der Neuen Musik erst Jahre später das Leben schwer machen. Und so kann urplötzlich etwas ein einfaches Lied sein, was Jahre zuvor als unhörbar galt, wie es heute uns mit Ferneyhough und Lachenmann z.B. ergeht, die allmählich konsumerabel sind wie Rihm immer sein wollte. Und ein zum Zeitpunkt der Entstehung einfaches Lied drückt plötzlich die Komplexität seiner Entstehungszeit aus.

So konnte ich in meinem Jäger Gracchus mich von Wortlosigkeit zu Wortfetzen zu Liedhaftem zu Tango durcharbeiten, simpel und ungebrochen, nur dass Frauen die Worte eines Mannes singen, so liess ich mir 2011 banale Politschlagwortreime dichten, um eine winzige Hölderlinbriefstelle in Bezug zu Angela Merkel & Co. setzen zu können. So muss in Kreidlers feeds hören tv Tristan zu Gameboyklängen sterben, löst der zumindest angekündigte authentische Tinnitus eine gewisse Anteilnahme aus, beeindrucken die simplen fiddle-object Wort-zu-Klavierclustertonlagen Frau Merkels. Wie bekommt man die entsprechenden Töne, kurz und knapp, liedähnlich, songartig zur Schraffierung der eigenen Zeitläufte hin? Das bleibt die eigentliche Frage. Und ob Wort oder Musik und wie und wann, das ist ein technisches Problem, allerdings auf Existenzniveau, mit so wachen Ohren und Augen wie nur möglich.

Alexander Strauch