Simon&Garfunkel in der musica-viva


Das allererste „richtige“ musica-viva-Ereignis unter dem neuen Programmchef Winrich Hopp startete nicht nur mit dem bisher üblichen Freitags-Orchesterkonzert im Herkulessaal, sondern gönnte sich zusätzlich noch zwei Kammerkonzerte in der Allerheiligenkirche der Residenz. Bis auf einen (von Schweinitz) waren alle Komponisten bereits verstorbene Klassiker.

John Cage umklammerte die beiden Abende. Sein „Eighty“ (1992) für achtzig Orchestermusiker musizierte das BR-Sinfonieorchester fast ohne Dirigent David Robertson. Es folgte 40 Minuten einer sichtbaren Stoppuhr. Die gab Jedem den Freiheitsrahmen für die auf nur einem Notenblatt notierten wenigen zu spielenden Töne. Man ließ sich auf ein Geflecht von Ruhe und Obertönen ein. Danach überwältigten Henri Pousseurs „Couleurs croisées“ (1967). In jeder Note verbarg sich das afroamerikanische Protestlied „We shall overcome“. Bis dieses offen ertönte, quirlte es Pousseur seriell wie suggestiv durch Debussy, Wiener Schule, Messiaen und Boulez. Man vernahm postmodernen Pluralismus ohne tonale Anbiederung. 

Luciano Berios „Sinfonia“ (1968) ist ebenfalls radikal, sogar klarer und strenger im Verschneiden von zeitgeistigen Polit- und Philosophenstatements in acht Gesangsstimmen – grossartig die Synergy Vocals – mit Neuer Musik und dem Vollzitat des Scherzos der zweiten Sinfonie Gustav Mahlers. Wären hier Understatement und kräftiger verstärkte Sänger (Elektronik: Stockhausen-Sohn Simon) gefragt, walzerte Kapellmeister Robertson als dürfte er sich im Jugendstil verlieren. Kein Wunder, dass man falsch „Hey Mrs. Robinson“ von Simon&Garfunkel assoziierte, als ein Sänger Thank you gepaart mit dem Namen des jeweiligen Taktschlägers zu sagen hatte. Nahtlos folgte Charles Ives‘ „The unanswered Question“ (1908). Wäre dies stärker durch theatrale Mittel unterstützt worden, wäre es weniger unmotiviert gewesen. Ausserdem war das Orchester nach den Hochkonzentratoren Cage und Pousseur leicht ermattet und intonierte nicht ganz sauber. 

Den Abend in der Allerheiligenkirche bestritten und programmierten eigenständig BR-Orchestersolisten: Henrik Wiese (Flöte), Stefan Schilli (Oboe), Sebastian Klinger, (Violoncello) und Frank Reinecke (Kontrabass) mit Solowerken für ihre Instrumente. Harte Kost bot die Uraufführung von Wolfgang von Schweinitz. Sein „Plainsound Counterpoint – Seven 23-limit Harmony Intonation Studies“ war zwar perfekt ausgehört, klang aber in jedem Stück gleich, als ob er in all den Obertönen die Übersicht einer klaren Morphologie seines Materials verloren hätte. Brian Ferneyhoughs „Cassandra’s Dream Song“ für Flöte, ein etliche neue Spiel- und Satztechniken auslotendes knapp zehnminütiges Werk, Komponist wie Stück sonst Konzertschrecken, überzeugte noch vor Bernd Alois Zimmermanns ultraschwerer Sonate für Cello solo und Luciano Berios „Sequenza VII“ für Oboe, die mit der Rolle dieses Instruments als Kammertongeber virtuos spielte. Im zweiten Teil rundete sich die Cage-Hommage: war die Akustik der Allerheiligenkirche für die anfänglichen Solostücke ab der zehnten Reihe problematisch, funktionierten hier die im Raum verteilten Instrumente. 

Letztlich klappte die Anlage beider Abende. Hoffentlich werden die Musiker aber nicht immer so krass gefordert, dass ihnen gerade zum zweiten Teil des Orchesterabends die Puste wegbleibt. Ausserdem verdient Neue Musik immer beste Musiker, Sänger und Dirigenten. Wie hervorragend die BR-Musiker sind, erlebte man am Solo-Abend. Solche Musiker, das anspruchsvolle Publikum, die Tradition der Konzertreihe wie die Komponisten haben allerdings bessere Dirigenten verdient wie jetzt präsentiert. Ausserdem ist ein Orchesterneuling eines lebenden Komponisten Pflicht. So fühlte man sich wie im Jurassic Park der Neuen Musik. 

Alexander Strauch